Appendix

 

Herbert Loebl’s Grabrede für Chriss Fiebig am Jüdischen Friedhof in Bamberg am 9.11.2004, vorgelesen von Kantor Martin Rudolf.

 

(Verehrte Trauerversammlung)

 

Wir alle leiden noch unter dem Schock des plötzlichen, unerwarteten Ablebens von Chriss. Ich führte noch am Abend vorher ein Ferngespräch von fast einer Stunde mit ihr. Wir besprachen unsere laufenden Projekte in Bamberg.

 

Sie sind heute hier versammelt, um an Chriss zu denken, um sie zu trauern und für ihr Leben zu danken, vor allem für ihre Arbeit in Bamberg. Es tut mir unendlich leid, nicht unter ihnen sein zu können, aber nach einer ziemlich ernsten Operation erlaubt mir mein Chirurg noch keine Reisen.

 

Chriss war keine gebürtige Bambergerin. Sie erblickte das Licht der Welt in einem Ort in der Nähe von Duisburg, wo ihr Vater ein Hotel besaß. Während des Krieges war er Dolmetscher in der Armee, seine Ehefrau, mit Baby Chriss, geboren 1942, zog nach Bamberg, wo sie Verwandte oder Bekannte hatte und man sich sicherer vor Luftangriffen fühlte. Ihrer Mutter’s Mutter war Jüdin, weshalb sie nach jüdischem Gebrauch selbst Jüdin war. Der Tod ihres Vaters bereits 1944 bedeutete daß sie zu jung war um sich an ihn zu erinnern. Sie forschte lange Jahre nach dem Ort seines Grabes und es mag eine besondere Laune des Schicksals gewesen sein, daß sie erst zwei Tage vor ihrem eignen Tod aus Wesel zurückkehrte, wo sie das Grab ihres Vaters aufgefunden hatte.

 

Chriss studierte Theologie in Bamberg, ich weiß nicht wie viel Semester, aber Ihre Vorträge über vergleichende jüdische und christliche Religionslehre lassen einen hohen Grad von Wissen erkennen. Sie heiratete in Paris, wurde aber später geschieden. Chriss war eine schöne und elegante Frau und hatte kein Problem sich zunächst ihr Leben als Model zu verdienen. Später zog sie nach Zürich zu einem Onkel ihres vormaligen Ehemanns. Dort führte sie erst eine Fabrik, dann ein Restaurant.

 

Bei einem Besuch in Bamberg hatte sie einen Unfall, bei dem sie beide Knöchel zerbrach. Der liebevollen Pflege durch Richard Lips, der sie lange im Rollstuhl herumfuhr, und dem Geschick eines Pariser Chirurgen, der die gebrochenen Knöchel zusammenschraubte, war es zu verdanken, daß sie ihre unabhängige Beweglichkeit zurückgewann. Sie konnte sich wieder voll in ihre Arbeit stürzen.

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Wie viele von Ihnen wissen, schreibe ich seit 1986 einen jährlichen “Brief aus Bamberg”, der für ehemalige Bamberger in aller Welt gedacht ist. Dem etwa 20-seitigen Text waren etwa 25 Zeitungsausschnitte beigelegt. Von Anfang an hatte ich jedes Jahr viel über Chriss’s Arbeit zu berichten, von ihren Friedhofsführungen, Führungen durch das “Jüdische Bamberg”, Vorträgen über Jüdische Religion, Kultur und Geschichte an Schulen, Seminaren und Universitäten, Bürgervereinen und anderen, nicht nur in Bamberg, wie auch regelmäßige Kurse an der Volkshochschule, von ihrer Arbeit in der Gemeinde ganz zu schweigen.

 

Jedes Jahr schien mir das Ausmaß ihrer Arbeit in und um Bamberg, in anderen Gegenden in Deutschland zu wachsen, auch in Villach in Kärnten, wo sie ein Haus besaß. Sie zeigte mir einmal ihren laufenden Termin Kalender. Dort zählte ich zwischen August 1995 und Juli 1996 etwa 150 Termine für Vorträge und Führungen, oder mindestens Anwesenheit an jüdischen Veranstaltungen. In der Partnerstadt Villach nahm sie auch an Bamberger Festen teil.

 

Ihre Vorträge und Führungen waren einzigartig, sie waren meistens voll belegt. Chriss vermittelte nicht nur Wissen, sie erwarb die Sympathie vieler Bamberger Bürger – jung und alt – für Juden im allgemeinen und besonders für die Bamberger jüdische Gemeinde, ”die für Menschen in Not als Hafen dienen darf”, wie ein Teilnehmer an einem ihrer Volkshochschulkurse in einem Schreiben an Chriss ausdrückte, dem er eine nicht unbeträchtliche Geldspende für Gemeindezwecke beilegte.

 

Chriss hatte auch immer neue Ideen zur Erinnerung an die Vergangenheit und als Warnung für die Zukunft. So schlug sie zum 9 November 1993 einen Schweigemarsch vom Areal der “Weißen Taube” zum Bahnhof vor, dem Schreckensweg der Menschen auf dem Weg zu Vernichtung. Viele der etwa 400 Teilnehmer an dem Marsch werden sich noch heute an den tiefen Eindruck erinnern,

den er allseits hinterließ. Vor dem jüdischen Gemeindehaus in der Willy Lessing Straße machte die Prozession Halt, wo Chriss das erschütternde Schreiben meiner Großmutter Löbl vorlesen konnte, das diese zwei Tage vor ihrer Verschleppung verfasst hatte, ein Schreiben übrigens, das Chriss sehr oft verwendete.

 

Heute ist der 9 November, der 66. Jahrestag der “Reichskristallnacht” wie die Nazis diese Schreckensnacht 1938 nannten, als ob das zerbrochene Glas das wesentlichste war. Seit vielen Jahren nahm Chrissan an diesem Tag an den öcumenischen Gottesdiensten und Gedenkfeiern am Feuerstein bei Ebermannstadt unter dem Motto “Gefährliche Erinnerungen” teil. Sie brachte das Brot und den Wein mit und sprach sowohl die Segen wie auch das Kaddish Gebet. Sie war dort sowohl bei dem Klerus wie auch den Andächtigen sehr beliebt, weil sie eine Kämpferin gegen Intoleranz, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft war. Aber schon in ihrer Ansprache am 9 November 1995 nach dem religiösen Teil der Feier  musste sie über anonyme antisemitischen Anrufe berichten, und über ihren Schrecken, daß Jüdische Einrichtungen Polizeischutz brauchten. Heute Abend wollte sie wieder am Feuerstein an der Gedenkfeier teilnehmen, wie sie mir in unserem Ferngespräch am Abend vor Ihrem Tod mitteilte.

 

Chriss war auch großenteils für die Organisation der jährlich stattfindenden ”Woche der Brüderlichkeit” verantwortlich und wählte die Mottos unter denen die Veranstaltungen geführt werden sollten. So z. B. das Motto von 1993: Statt Gleichgültigkeit, Mut zur Verantwortung” oder das von Hilde Donin in 2002 gedichtete “Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns”

Obwohl für Chriss das Verständnis der jüdischen Religion und Geschichte wie das brüderliche Zusammenleben zwischen Juden und Christen von fundamentaler Bedeutung war, erschöpfte sich ihr Engagement nicht darin. Sie arbeitete auch für brüderliche Beziehungen von Juden und Christen zu Muslimen und interessierte sich besonders für die Probleme der muslimischen Frauen in unserer Gesellschaft. Sie nahm deshalb an Seminaren mit diesen Inhalten teil. Sie unterstützte auch eine Volkschule in Israel bezw. in Palästina, in der Kinder aus allen drei Religionsgruppen zusammen erzogen werden.

 

Ihr Wirkensgebiet beschränkte sich nicht auf Bamberg, sonder erstreckte sich auch auf Städte, Marktflecken und Dörfer in der ganzen Umgegend, d.h. auf das ganze Oberfranken und darüber hinaus. In den letzten Jahren folgte Chriss Einladungen zu Referaten im Dom von Eichstädt, die dort großes Interesse erweckten. Seit dem Erwerb eines Hauses in Villach. hatte sie nicht nur Lehraufträge der Regierung von Kärnten, sondern feierte die jüdischen Pesach- und Neujahrsfeste in einem immer größeren Kreis von Christen. Auch gab Sie dort Kurse in jüdischer Küche. Sie referierte auch an der Universität Klagenfurth.

 

In 1989 begleitete sie eine Gruppe Bamberger Studenten auf einer Tour in Polen. Der Mangel an genügender Nahrung schockierte sie dermaßen daß sie mit Spenden von zahlreichen Personen und Institutionen Nahrung einkaufte, die sie in zwei Lastwagen, die sie durch die Unterstützung von OB Lauer geliehen bekam, mit einer Gruppe von Freiwillingen nach Polen brachte, wo sie die Verteilung der Nahrungsmittel überwachte. Soweit ich mich erinnere unternahm Chriss mindestens zwei solcher Touren menschlichen Hilfe. Später führte sie junge Bamberger auf einer Informationsreise nach Israel.

 

Es ist eine der Ironien der Gegenwart, ist aber ein Verdienst von Chriss, daß in den letzten Jahren Tausende Bamberger Bürger an den Führungen im jüdischen Friedhof und zu dem alten “jüdischen” Bamberg um den Fuß des Kaulbergs herum teilnahmen, wie auch an den Vorträgen zu Themen des Judentums von Chriss und einigen anderen Personen, während zu einer Zeit als noch eine eingesessene alte jüdische Gemeinde bestand, praktisch nur Juden den Friedhof besuchten.

 

Den verschiedensten Interessens- und Altersgruppen Gruppen aus Bamberg und der Umgebung zeigte Chriss den Friedhof, die Trauerhalle und die Ausstellungen in der Halle. Zwei Einträge im Besucherbuch des Friedhofs am Holocaust Tag, den 27. April 1995 unterstreichen diesen Gedanken: Alle der 10 Mitglieder der Staatsanwaltschaft am Landgericht Bamberg unterzeichneten ein sinnvolles Gedenken an die Leiden der Juden unter den Nazis, Die 16 Mitglieder der katholischen Arbeiterbewegung unterzeichneten andere, ebenso sinnvolle Worte.

 

Nicht wenige der Teilnehmer von Chriss’s Führungen kamen zum zweiten oder dritten Mal. Für einige war ein Resultat der Vorträge, daß sie sich selbst näher mit der jüdischen Religion und Geschichte beschäftigten. Der Lehrer Thomas Starz, Bayreuth, ein Schüler von Chriss, etablierte eine preisgekrönte website juden-in-bamberg.de, die inhaltlich den Vorträgen von Chriss am nächsten kommt, aber auch Auskünfte über laufende Projekte und Ausstellungen gibt.

Mit Ihren auf eigne Kosten unternommenen Nachdrucken der Werke des Bamberger Rabbiners Dr. Eckstein von 1899 und 1910 über die Geschichte der Juden in Bamberg bis zurück zum Mittelalter leistete Chriss Wissenschaftlern wie auch Geschichts-interessierten Laien einen unschätzbar wichtigen Dienst. Bevor sie diese Werke auf den Markt brachte, waren sie selbst im Antiquitätenhandel nur selten zu finden. Meine Familienforschung und Geschichtsarbeit wären ohne diese Nachdrucke kaum denkbar gewesen. Sie druckte auch eine Kampfschrift von Dr. Eckstein nach, die leider in den 1920er Jahren notwendig geworden war; “Haben die Juden in Bayern ein Heimatrecht”?

 

Kennengelernt hatte ich Chriss in der Küche des jüdischen Gemeindehauses in Bamberg im April 1986, wo sie das Pesachmahl für etwa 80 Personen vorbereitete.

Sie gab auch ihre jüdische Kochkunst an den Friedhofswärter und seiner Frau weiter.

 

Außerdem habe ich bis jetzt nichts über Chriss’ Arbeit in der Gemeinde selbst gesprochen, über Ihren Religions- und Geschichtsunterricht bevor Herr Rudolph ankam, und über ihre Organisation der gesellschaftlichen Seite der Feste. Chriss war auch ein sehr aktives Mitglied der örtlichen Sektion der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, wie auch der Mainfränkischen Deutsch- Israel Gesellschaft in Würzburg.

 

Nicht zuletzt denke ich mit Dankbarkeit an Chriss’s Bereitschaft, jüdische Bamberger oder deren Nachkommen aus Amerika, Israel, England und anderen Ländern bei ihren Besuchen in Bamberg zu empfangen, ihnen die Stadt zu zeigen und ihnen jegliche Hilfe zu leisten.

 

Für mich ist Chriss’s Ableben nicht nur ein schmerzlicher persönlicher Verlust, sondern hat auch praktische Folgen: Ohne ihre Mitarbeit werden meine “Briefe aus Bamberg” schwieriger, vielleicht unmöglich werden. Sie hatte mir alle Zeitungsausschnitte und relevanten Schreiben von jüdischem Interesse zugeschickt,

die ich dann in Kopie mit dem Brief lieferte. Sie war im wahren Sinn meine Bamberger Jüdische Nachrichten Agentur gewesen.

 

Daß es in Bamberg recht friedlich und freundschaftlich zwischen den Mitgliedern der drei großen Religionen zugeht, ist großenteils das Verdienst von Chriss. und ihrer Arbeit in den letzten 20 – 25 Jahren gewesen. Mir ist keine einzelne jüdische Person bekannt, die diese Arbeit fortführen könnte. Wenn wir unter Christen und Muslimen keinen Ersatz für Chriss finden, müssen wir eben alle zusammenarbeiten, damit der Geist den Chriss in besonderer Weise in dieser Stadt mitgeprägt hat weiter lebendig bleibt und gedeiht. Um das Andenken an Chriss zu wahren, können wir nicht weniger tun.

 

Liebe Chriss, ruhe in Frieden.

 

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Diese Seite wurde zuletzt bearbeitet am
12. Februar 2005


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